ein zweites Standbein auf und emanzipierten sich ein Stück weit von den knappen Vergütungszahlungen der Krankenkassen. Beispielsweise Prävention und Fitness mit der attraktiven Schnittstelle Medical Fitness war für viele Physiotherapeut*innen eine sinnvolle Ergänzung. Ähnlich sah es bei den Logopäd*innen und Ergotherapeut*innen aus, die sich in Richtung Training und Coaching entwickelten oder andere Nischen in Randbereichen ihrer ursprünglichen Tätigkeit besetzten. „Der Fantasie waren und sind da eigentlich keine Grenzen gesetzt,“ meint Unternehmensberater Uwe Schiessel. Alles, was zur Praxis passe und sich an Patient*innen und Kund*innen verkaufen ließe, sei möglich. Doch dann kam Corona, und nun erweist sich ausgerechnet das als krisensicher, was vielen zuvor als zu wenig gewinnträchtig schien. Seminare und Kurse mussten abgesagt, Fitness- und Wellnesscenter geschlossen werden. Nur weil die Leistungen der Heilmittelerbringer*innen als „medizinisch notwendig“ gelten, durften ihre Praxen selbst im harten Lockdown in der Regel offenbleiben. So blieb zumindest das traditionelle Kerngeschäft erhalten, für viele Praxen war das die Rettung. Nur Praxisinhaber, die voll auf Privatzahler setzten oder kürzlich große Investitionen beispielsweise in Fitness- und Wellnesseinrichtungen getätigt haben, stehen vor größeren Schwierigkeiten. Hätten die Therapeut*innen wie die Schuster 20% Nur maximal 20 Prozent der Selbstzahlerangebote in Heilmittelpraxen sind erfolgreich (siehe Interview) Irgendwann ist die Pandemie vorbei. Dann lohnt es sich, wieder Fitness in der Praxis anzubieten und damit das Portfolio zu erweitern. bei ihren Leisten bleiben sollen? Unternehmensberater Schiessel widerspricht. Der aktuelle Gegenwind hätte auch schon aus der anderen Richtung ordentlich geblasen (mehr dazu im Interview auf der nächsten Seite). Davon kann auch Gerhard Jeske ein Lied singen. Der Physiotherapeut aus Ludwigsburg erinnert sich noch gut daran, wie in den 1990-er Jahren die Gesundheitsreform des damaligen Gesundheitsministers Horst Seehofer zu Umsatzeinbüßen von bis zu 40 Prozent führten. Oder wie 2004 der Leistungsumfang des damals gerade erst eingeführten Heilmittelkataloges so beschnitten wurde, dass es erneut zu deutlichen Einbrüchen kam. „Ich wollte mich deshalb möglichst unabhängig von Ärzten und Krankenkassen machen. Deshalb war mir ein hoher Privatanteil an meinen Umsätzen einfach wichtig“, erklärt Jeske. Groß zu denken, war und ist dabei seine Devise. Angefangen auf 240 Quadratmetern, verdreifachte er schon bald seine Fläche, um dort besser Trainings- mit Physiotherapie verbinden zu können. Als 2006 eine große Fitnesshalle in seiner Nachbarschaft Konkurs ging, packte er die Gelegenheit beim Schopf und übernahm das 3.100 Quadratmeter große Gebäude. Auf rund einem Drittel der Fläche bietet er dort nun Physiotherapie an, im Rest wird Fitness betrieben. Dafür sprechen mehr als nur betriebswirtschaftliche Gründe Es ist ein Geschäftsmodell, das sich lohnt. Zum einen zahlen die rund 3.500 Mitglieder des Fitnessclubs einen monatlichen Beitrag von 70 bis 100 Euro. Zum anderen gibt es natürlich auch einen regen Austausch zwischen Fitnesskund*innen und Physio-Patient*innen. Nach der Behandlung geht es oft im Fitnessclub weiter, genauso wie viele der Sporttreibenden bei körperlichen Beschwerden in die Physiotherapie „überwiesen“ werden. Dabei betont Jeske, dass die Entscheidung, sich breiter aufzustellen, keineswegs nur betriebswirtschaftliche Gründe hatte. Am Anfang habe die Erkenntnis gestanden, dass man nur durch die Verzahnung von Therapie, Training und Bewegung den Menschen nachhaltig helfen könnte. Ähnlich argumentiert auch Anke Günther. Die INTERVIEW „Selbstzahlerangebote sind keine Selbstläufer“ Trotz Corona und den Folgen spricht vieles dafür, Privatleistungen anzubieten. Das meint zumindest UWE SCHIESSEL, ein auf Heilmittelerbringer*innen spezialisierter Unternehmensberater. Selbstzahlerleistungen sind massiv von Corona-Schließungen betroffen. Ist so eine Ausweitung des Angebots riskant? Die Corona-Pandemie ist – wie wir wohl alle hoffen – ein einmaliges Ereignis, das sich wohl nicht so schnell wiederholen wird. Natürlich hat es manche Anbieter*innen hart getroffen. Aber gerade aus den Beschränkungen haben sich wieder einige neue Selbstzahlerleistungen ergeben. Dazu gehört die Videotherapie, die es auch ermöglicht, Spezialangebote über große Entfernungen anzubieten. Letztlich ist es eine Grundaufgabe der betriebswirtschaftlichen Ausrichtung, immer wieder zu analysieren, wie wir auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren können. Was empfehlen Sie grundsätzlich – unabhängig vom derzeitigen „Corona-Problem“? Prinzipiell ist es sinnvoll, eine Risikostreuung für das eigene Angebot aufzubauen. Wie eine Firma, die Badebekleidung herstellt und für die Risikostreuung auch Regenschirme produziert. In den letzten Jahren mussten sich Therapeut*innen auch immer wieder mit dem Problem beschäftigen, dass Verordnungen schlagartig deutlich zurückgingen. Hier konnten wiederum durch Selbstzahlerangebote viele Arbeitsplätze und sogar ganze Praxen gerettet werden. Das klingt einfach. Ist es das auch? Selbstzahlerangebote sind keine Selbstläufer. Seit Jahren zeigt sich, dass nur rund 20 bis 30 Prozent der entwickelten und angebotenen Selbstzahlerangebote in den Heilmittelpraxen überhaupt an den Mann oder die Frau gebracht werden. Das wird dann tragisch, wenn teure Geräte angeschafft werden und diese dann keinen Umsatz erwirtschaften. Dann kann eine Selbstzahlerleistung auch eine Gefahr für die Praxis darstellen. Würden Sie trotzdem allen Praxisinhaber*innen empfehlen, über solche Angebote nachzudenken? Nachdenken: Ja. Allerdings müssen Selbstzahlerleistungen auch „verkauft“ werden. Das kann nicht jede*r, zumal auf der anderen Seite auch vermieden werden muss, Patient*innen zum Kauf zu drängen. Sonst geht schnell die Glaubwürdigkeit des eigentlichen Therapieangebots verloren. Das ungekürzte Interview mit Uwe Schiessel finden Sie unter www.optica.de/schiessel 10 ZUKUNFT PRAXIS TITEL ZUKUNFT PRAXIS TITEL11
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